Das Frühjahr mit Feiertagen, die unsere Beziehungen und Traditionen ehren: Muttertag, Vatertag, Tag der Arbeit. Die Natur erwacht zu neuem Leben, während wir zugleich „kollektive Werte“ feiern. Doch eine wesentliche Frage bleibt oft unbeantwortet: Wann nehmen wir uns eigentlich mal die Zeit, uns selbst zu feiern – nicht nur unsere Rollen und Leistungen, sondern unser bloßes Sein in all seiner Vergänglichkeit?
Die Paradoxie des Frühlings: Erwachen und Vergänglichkeit
Der Frühling symbolisiert Neuanfang und Wachstum. Pflanzen sprießen, Vögel kehren zurück, und die Tage werden heller und länger. Natürliche Lebensenergien kehren zurück. Diese Jahreszeit erinnert uns an den natürlichen Zyklus von Werden und Vergehen. Laut der Psychiaterin und Sterbeforscherin Dr. Elisabeth Kübler-Ross spiegeln die Jahreszeiten unsere eigenen Lebenszyklen wider: „Die Natur lehrt uns, dass Leben und Tod untrennbar miteinander verbunden sind“ (Kübler-Ross, 2014). Diese Erkenntnis kann befreiend sein. Das Bewusstsein unserer eigenen Vergänglichkeit kann dabei paradoxerweise auch zu einer intensiveren und bewussteren Wahrnehmung des gegenwärtigen Moments führen. Denn während wir das Frühjahr und seine Feiertage zelebrieren, bieten sich auch hervorragende Gelegenheiten, über unsere eigene Existenz zu reflektieren.
… und manchmal ist da auch Schatten
Auf der anderen Seite spüren viele Menschen, gerade im Frühjahr, auch zunehmende seelisches Ungleichgewicht: Während der Frühling oft als Zeit der Freude und des Neubeginns zelebriert wird, empfinden diese Menschen paradoxerweise eine Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit. Entgegen der landläufigen Meinung, die vorwiegend Herbst und Winter mit depressiven Verstimmungen verbindet, zeigen Studien eine signifikante Häufung von Depressionen und Suiziden im Frühjahr. Der Kontrast zwischen der aufblühenden Natur und dem eigenen Gefühlsleben kann dazu führen, dass die Menschen subjektiv belasteter sind. Und auch die biologischen Rhythmen vieler Menschen reagiert empfindlich auf die veränderten Temperaturen und Lichtveränderungen, u.a. mit hormonellen Schwankungen, Müdigkeit oder Hautreizungen. Zusätzlich gibt es einen starken gesellschaftliche Druck, die „schöne Jahreszeit“ zu genießen, viel Zeit draußen zu verbringen und aktiv zu sein. Bei Menschen mit depressiven Verstimmungen oder Menschen, die sich gerade im Trauerprozess befinden, kann das Frühjahr daher verstärkte Gefühle der Isolation, Traurigkeit und Unzulänglichkeit hervorrufen. Diese Ambivalenz zeigt deutlich, wie wichtig achtsame Selbstwahrnehmung und professionelle Unterstützung durch Coaches oder Therapeuten bei anhaltenden Symptomen sind.
Lasst uns feiern: Unser Sein jenseits von Rollen und Leistungen
Die Feiertage im Mai würdigen Menschen immer im Kontext ihrer Funktionen, Rollen und Leistungen. Aber wann feiern wir eigentlich unser bloßes Dasein? Die psychologische Forschung zum Selbstmitgefühl zeigt einen bedeutsamen Unterschied: Während Selbstwertgefühl häufig auf Leistungsvergleichen und externen Erfolgsmaßstäben basiert, ermöglicht echtes Selbstmitgefühl eine Wertschätzung unseres grundlegenden Menschseins – unabhängig von messbaren Erfolgen. Diese Unterscheidung ist entscheidend in einer Gesellschaft, die kontinuierlich Produktivität und Funktionalität bewertet.
Trauer als Weg zur Selbstanerkennung?
Paradoxerweise kann das Erkennen unserer Vergänglichkeit zu tieferer Selbstwertschätzung führen. Der bekannte Psychiater und Schriftsteller Dr. Irvin Yalom schreibt: „Die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit kann zu einer authentischeren Lebensweise führen“ (Yalom, 2020). Entscheidend ist: Trauerarbeit – nicht nur um Verstorbene, sondern auch um unerfüllte Träume oder verpasste Chancen – ermöglicht persönliches Wachstum.
Als langjähriger Wendepunkt-Coach und Trauerbegleiterin weiß ich aus vielen Begleitungen: Trauer ist keine Krankheit, sondern ein notwendiger Prozess. Manchmal benötigt dieser Prozess mehr Zeit und er kann sehr schmerzhaft sein, aber manchmal kann er auch überraschend und befreiend sein. Wichtig ist, dass wir diese Zeit bewusst nutzen und in unser Leben integrieren, Gefühle zulassen und Momente des Reflektierens einplanen. Nur so ist es möglich, Verluste wirklich in unsere Biografie zu integrieren und uns selbst anders oder neu zu definieren. Dieser sehr individuelle Prozess kann als persönliches Ritual der Selbstanerkennung verstanden werden.
Selbstwirksamkeit: Die innere, tiefe Kraft, unser Leben zu gestalten
Das Konzept der Selbstwirksamkeit beschreibt unseren Glauben an die eigene Fähigkeit, Herausforderungen zu meistern und Einfluss auf unser Leben zu nehmen. Forschungen zeigen, dass Menschen mit höherer Selbstwirksamkeitserwartung besser mit Stress umgehen, offener für Neues sind und gesünder leben. Menschen, die einmal diese Erfahrung gemacht haben, wissen: Es sind häufig die schweren und belastenden Zeiten, die dazu geführt haben, sich innerlich weiterzuentwickeln, neue Perspektiven einzunehmen und neue Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben. Menschen, die glauben, durch Anstrengung wachsen zu können, sind insgesamt resilienter als diejenigen, die sich als zu schwach erleben und glauben, ihr Leben zu unveränderlich. Für mich bedeutet dies in aller Konsequenz: Selbstwirksamkeit zu feiern bedeutet, unsere Kapazität für Wachstum und Veränderung anzuerkennen.
Meine Empfehlung: Das Frühjahr als Einladung zur Selbstfeier
Lasst uns eine Selbstfeier etablieren, denn sie ist eine tiefe Wertschätzung unserer eigenen Existenz inmitten einer neu erblühenden Welt – mit all unseren Unzulänglichkeiten, unseren Einschränkungen, mit all unserem Zweifel und all unseren Befürchtungen. Endlichkeit ist die Quelle eines authentischen Lebens, so drückte der Existenzphilosoph Martin Heidegger diese Paradoxie aus.
Lasst uns einen Feiertag für uns selbst gestalten!
Vielleicht ist es daher an der Zeit, zwischen Muttertag und Vatertag einen ganz persönlichen „Tag der Selbstfeier“ einzuführen. Nicht mit gesetzten Regeln, sondern als bewusste Praxis der Selbstanerkennung und -wertschätzung, so individuell wie wir selbst. Nehmen wir uns an diesem Tag bewusst Zeit für uns: beim Spaziergang durch die erwachende Natur, beim Treffen mit Menschen, die uns wirklich sehen und wertschätzen, oder auch in stillen Momenten der Reflexion. Ob allein oder mit Gleichgesinnten – lasst uns rituelle Räume schaffen, in denen wir uns etwas Gutes tun, in denen wir vollkommen da sind und dankbar sein können für unser einzigartiges Selbst mit all unseren Facetten.