„In den Moment, in denen das Leben Dich aus der Bahn wirft, beginnt die eigentliche Selbstentdeckung“, berichtete mir vor einigen Jahren ein Klient. Der 55-jährige war ein Topmanager in einem internationalen Technologiekonzern. Seine Karriere war von Erfolg und Effizienz geprägt – bis zu dem Moment, als eine unerwartete Krebsdiagnose sein Leben komplett veränderte. Die Diagnose traf ihn mitten in einer wichtigen Unternehmensübernahme. Plötzlich waren Strategiesitzungen, Quartalsberichte und Karriereambitionen nebensächlich geworden. Seine Krise zwang ihn, sich mit existenziellen Fragen auseinanderzusetzen: Was bedeutet Erfolg wirklich?
Was ist wichtig im Leben?
Während seiner Behandlung begann er, sein bisheriges Leistungsdenken zu hinterfragen. Er entdeckte Resilienz und Tiefe in sich, die weit über seine beruflichen Leistungen hinausgingen. Die Krankheit wurde für ihn paradoxerweise ein Weg zur Selbstentdeckung – eine Transformation, die er später als größte berufliche Lernerfahrung seines Lebens beschreiben würde.
Krisen überfordern und fordern uns gleichzeig heraus
Eine Krise ist ein zutiefst menschlicher Prozess der Neuordnung und Neuorientierung. In solchen Augenblicken wird unser bisheriges Koordinatensystem ungültig, und wir werden gezwungen, neu zu lernen, zu fühlen, zu denken und zu handeln. Wissenschaftlich betrachtet entsteht eine Krise, wenn externe Belastungen individuellen Ressourcen und Strategien des Umgangs und der Bewältigung aus dem Ruder laufen lässt und es folglich keine vorgefertigten Antwortmuster gibt. Krise bedeutet folglich immer auch (Los)lassen und Mut.
Entscheidend ist: Krisen im Leben sind normal
Aus entwicklungspsychologischer Perspektive sind Krisen nicht pathologisch, sondern normale Übergangsphasen. Sie sind keine Störung, sondern bieten die Chance, neue Bewältigungskompetenzen zu entwickeln und persönliches Wachstum zu erfahren. Die systemische Perspektive betrachtet Krisen als Momente der starken Verunsicherung, in denen etablierte Handlungsmuster in Frage gestellt und potenziell neu justiert werden. Vielleicht kann man sich Krisen am besten, wie ein Erdbeben vorstellen, bei denen die gewohnte Sicht auf unser Selbst und unsere Wahrnehmung erschüttert werden. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, in den Lücken etwas Neues entstehen zu lassen. Diese Wendepunkte öffnen gleichzeitig also auch neue Räume, um eigene Handlungsstrategien zu hinterfragen und unser Selbst anders auszurichten.
Wie verläuft eine typische Krise?
Der Verlauf einer Krise folgt typischerweise einem mehrstufigen Prozess der emotionalen und psychischen Bewältigung. Und manchmal haben wir sogar schon eine Vorahnung, dass irgendetwas Unerwartetes geschehen wird.
- Zunächst tritt die Schockphase ein, in der Betroffene mit dem Krisenereignis konfrontiert werden. Diese Phase ist geprägt von einer gefühlten Lähmung und emotionaler Betäubung. Die Realität wird zunächst nicht wahrgenommen, was eine Schutzfunktion des Organismus darstellt.
- In der anschließenden Reaktionsphase brechen die Emotionen auf. Intensive Gefühle wie Angst, Wut oder Trauer überwältigen den Betroffenen. Gleichzeitig beginnt ein aktiver Versuch, die Situation zu bewältigen und erste Verarbeitungsstrategien zu entwickeln.
- Die Verarbeitungsphase kennzeichnet sich durch eine aktive Auseinandersetzung mit dem Geschehenen. Die Betroffenen beginnen, die Situation zu akzeptieren und entwickeln neue Bewältigungsstrategien. Eine emotionale Neuorientierung setzt ein, bei der die Geschehnisse schrittweise eingeordnet werden.
- In der Neuorientierungsphase erfolgt die Integration der Krisenerfahrung. Es entwickeln sich neue Perspektiven, und aus der Krise kann Transformation entstehen. Die Suche nach Sinn wird zu einem zentralen Aspekt.
- Abschließend tritt die Stabilisierungsphase ein. Hier wird ein neues Gleichgewicht hergestellt. Die Betroffenen orientieren sich mit Blick auf die Zukunft und erleben eine persönliche Weiterentwicklung. Die Krise wird nicht mehr als existenzielle Bedrohung, sondern als natürlicher Prozess der Veränderung wahrgenommen.
Krisen in Abgrenzung zur Depression und zum Trauma
Differenzialdiagnostisch unterscheidet sich eine Krise deutlich von verwandten psychischen Zuständen. Während eine Depression durch anhaltende Symptomatik gekennzeichnet ist und meistens auch körperlich stärkere Auswirkungen hat, stellt eine Krise einen dynamischen, temporären Zustand der Instabilität dar. Traumata hingegen hinterlassen oft tiefgreifende psychische Spuren und Narben, wohingegen Krisen grundsätzlich das Potenzial zur Selbstregulation besitzen.
…. und was hilft nun wirklich?
Deine individuellen Bewältigungsressourcen spielen eine entscheidende Rolle. Faktoren wie Resilienz, soziale Unterstützung durch Freunde oder Familie und bisherige Krisenerfahrungen beeinflussen, wie jeder von uns eine Krisensituation bewältigt. Neurobiologisch aktivieren sich während einer Krise primär Stresssysteme, die eine adaptive Neuorientierung ermöglichen.
Empirische Studien zeigen, dass professionelle Unterstützung in Zeiten der Krise eine Bewältigung deutlich verbessern kann. Interventionen durch Therapeuten oder geschulte Coaches helfen, die schon vorhandenen Ressourcen neu zu und die daraus entwickelten, persönlichkeitsbezogenen Anteile auf heilsame Beine zu stellen.
Was bleibt, was geht
Zentral ist die Erkenntnis: Krisen sind keine persönliche Schwäche, sondern (auch neurobiologisch) reale Möglichkeiten sich neu zu entdecken. Sie fordern uns heraus, bestehende Denk- und Verhaltensmuster zu reflektieren und potenziell zu transformieren. Jede bewältigte Krise kann zu einem enormen persönlichen Lern- und Entwicklungsschub führen und die Basis für wertvolles Neues schaffen.
Wir sind nicht die Opfer unserer Umstände, sondern die Autoren unserer (Lebens-)Geschichten. Und manchmal schreibt man neue Kapitel genau dann, wenn alles auseinanderzufallen droht.