Trauer: Warum sie Zeit braucht und wie wir sie verstehen lernen

von | 19 März 2025 | TRAUERARBEIT, Allgemein, KOMMUNIKATION, RESILIENZ

Trauer ist eine der tiefgreifendsten Erfahrungen unseres Menschseins. Sie offenbart nicht nur, wie innig unsere Beziehungen sind, sondern auch, wie schmerzhaft es ist, jemanden zu verlieren, der einen festen Platz in unserem Herzen hatte. Trauer ist weit mehr als ein Gefühl; sie ist ein umfassender körperlicher, geistiger und seelischer Prozess, der uns oft an unsere Grenzen führt. Sie fordert Zeit, Raum und vor allem: ein tiefes Verständnis – sowohl von uns selbst als auch von unserem Umfeld.

Schon immer schlich sich das Thema Trauer wie durch eine Hintertür häufig in meine Coachings. Wie ein roter Faden, der mich darauf brachte, dass Krisen häufig auch mit Trauer verknüpft sein müssen. In der Ausbildung zur Trauerbegleiterin und durch meine eigenen half mir mein Wissen über die Neurobiologie der Trauer enorm – und das ist auch der Grund, warum ich dieses wichtige Thema nun in meinem Blog aufgreifen möchte.

„Die Welt war in Schwarz-Weiß gehüllt“

Andrea S, eine junge Frau Anfang 30, hatte ihre beste Freundin, mit der sie schon seit der Grundschule eng verbunden war, durch einen tragischen Unfall verloren: „Ich fühlte mich wie betäubt, die Welt war zudem in Schwarz-Weiß gehüllt, wie im Winter“, erzählte sie mir. „Alles um mich herum lief weiter, aber in mir herrschte Stillstand. Ich war unendlich traurig, und gleichzeitig wie unter einer Glasglocke.“ Diese Erstarrung ist ein typisches Anzeichen für die erste Phase der Trauer – das Nicht-Wahrhaben-Wollen. In dieser Phase versucht unser Gehirn, den Schock zu verarbeiten und uns vor der überwältigenden Wucht des Schmerzes zu schützen.

„Trauer ist der Preis für die Liebe“

Dieser treffende Satz stammt von Prof. Hansjörg Znoj, dem Prof. em. Dr.  am Institut für Psychologie an der Universität Bern, der viele Jahre zum Thema Trauer forschte. (Quelle: GEO kompakt vom 11.09.2019: Anhaltende Trauer: Was Betroffene tun können). Wenn wir einen geliebten Menschen verlieren, bricht tatsächlich etwas in uns zusammen. Es fühlt sich an, als würde ein Teil von uns selbst fehlen – und das tut er in gewisser Weise auch. Der Verlust hinterlässt eine tiefe Lücke in unserem Leben, deren Ausmaß wir erst allmählich begreifen können.

Was passiert im Gehirn während der Trauer?

Trauer ist keineswegs nur ein Gefühl, sondern ein komplexer neurobiologischer Prozess. Verschiedene Hirnregionen interagieren miteinander, um den Verlust zu verarbeiten:

  • Die Amygdala, unser „Alarmzentrum“, erkennt den Verlust als bedrohlich und löst intensive Emotionen aus – von tiefer Traurigkeit und Verzweiflung bis hin zu Angst und Wut.
  • Der präfrontale Kortex, der für rationale Entscheidungen und Handlungen zuständig ist, versucht gleichzeitig, diese überwältigenden Emotionen zu regulieren – was in den ersten Wochen und Monaten jedoch oft nur bedingt gelingt.
  • Das limbische System, unser emotionales Gedächtnis, ist eng mit Erinnerungen an die verstorbene Person verbunden. Deshalb kann ein bestimmtes Lied, ein Duft oder ein vertrauter Ort plötzlich eine ganze Welle von Traurigkeit und Sehnsucht auslösen.

Interessanterweise ähneln die Aktivitätsmuster im Gehirn während der Trauer denen, die bei Suchtverhalten beobachtet werden. Das Belohnungssystem wird aktiviert, wenn wir an die verstorbene Person denken oder uns nach ihr sehnen – ähnlich wie bei einem Entzug. Dies erklärt, warum Trauernde oft das Gefühl haben, „nicht loslassen“ zu können.

Warum dauert Trauer so lange?

Die Dauer des Trauerprozesses ist von zahlreichen Faktoren abhängig: Wie eng war die Beziehung zur verstorbenen Person? War der Verlust plötzlich und unerwartet oder Folge einer langen Krankheit? Wie stabil ist das soziale Umfeld des Trauernden?

Prof. Hansjörg Znoj betont, dass „echte“ Trauer oft mehrere Jahre dauern kann – auch wenn die Gesellschaft meist erwartet, dass wir nach wenigen Monaten wieder „funktionieren“. Früher war es üblich, Trauer offen zu zeigen, etwa durch das Tragen schwarzer Kleidung oder anderer Symbole. Heute fehlt dieser gesellschaftliche Rahmen oft, was dazu führt, dass sich viele Trauernde unter Druck gesetzt fühlen, ihre Trauer zu verbergen und schnell wieder „zur Normalität“ zurückzukehren.

Ich erinnere mich an einen Klienten, Andreas M. der seinen Vater nach langer Krankheit verlor. Nach etwa drei Monaten sagte ihm ein Kollege: „Du musst doch langsam mal damit abschließen.“ Er fühlte sich dadurch zutiefst verletzt und unverstanden. „Ich hatte das Gefühl, ich müsste mich für meinen Schmerz rechtfertigen“, erzählte er mir. „Dabei war er noch immer so frisch.“ Die Folge war, dass sich Andreas M. noch weiter zurückzog und sich in seiner Trauer allein gelassen fühlte. Zum Glück hatte er eine starke Familie und einen stabilen Freundeskreis, die ihm halfen, diese schwierigen Emotionen zu verarbeiten. Dennoch entschied er sich etwa ein Jahr später, seinen Arbeitsplatz zu wechseln, da er das Gefühl hatte, dass seine Trauersituation im Arbeitskontext nicht ausreichend berücksichtigt wurde und man keine Rücksicht auf ihn nahm.

Anhaltende Trauer: Wenn der Schmerz nicht nachlässt

In etwa 5–10 % der Fälle entwickelt sich eine sogenannte „anhaltende Trauerstörung“. Betroffene bleiben in ihrem Schmerz gefangen und finden keinen Weg zurück ins Leben. Symptome können sein:

  • Starke Schuldgefühle („Ich hätte mehr tun müssen“).
  • Tiefe Hoffnungslosigkeit und sogar Suizidgedanken.
  • Soziale Isolation und Vernachlässigung des eigenen Lebens.

Solche Zustände treten häufig bei Menschen auf, die eine komplizierte Beziehung zu dem Verstorbenen hatten – beispielsweise aufgrund ungelöster Konflikte oder starker Schuldgefühle.

Es hat sich in der Praxis bewährt, sehr persönliche Briefe an die Verstorbenen zu verfassen oder im geschützten Rahmen von Therapiegesprächen (z.B. mit der „Empty Chair“-Technik) all die aufgestauten Gefühle auszudrücken – dies kann ein wichtiger erster Schritt in Richtung Heilung sein.

Was hilft in der Trauer?

Trauer ist ein zutiefst individueller Prozess, und es gibt keinen „richtigen“ oder „falschen“ Weg, mit ihr umzugehen. Dennoch gibt es bestimmte Ansätze, die vielen Menschen in dieser schwierigen Zeit helfen können:

  1. Gefühle zulassen: Es ist wichtig, den Schmerz anzunehmen und ihn nicht zu unterdrücken oder zu verdrängen. Tränen sind kein Zeichen von Schwäche, sondern ein wichtiges Ventil für unsere Emotionen.
  2. Erinnerungen pflegen: Das Ansehen von Fotos, das Erzählen von gemeinsamen Erlebnissen und das Teilen von Anekdoten kann sehr tröstlich sein. Manche Menschen tragen ein besonderes Erinnerungsstück bei sich oder schaffen kleine Rituale, wie das Anzünden einer Kerze.
  3. Soziale Unterstützung suchen: Familie, Freunde oder eine Trauergruppe können eine wertvolle Stütze sein – besonders, wenn sie selbst ähnliche Verlusterfahrungen gemacht haben und Verständnis zeigen.
  4. Professionelle Hilfe annehmen: Bei sehr intensiver oder anhaltender Trauer können Psychologen oder ausgebildete Trauerbegleiter wertvolle Unterstützung leisten, um den Verlust zu integrieren und neue Perspektiven zu entwickeln.
  5. Rituale gestalten: Rituale können Halt und Struktur in einer chaotischen Zeit geben. Das kann eine regelmäßige Gedenkminute sein, der Besuch eines besonderen Ortes oder das Schreiben in ein Trauertagebuch.
  6. Geduld haben: Trauer verläuft nicht linear. Es ist normal, dass es Rückschläge gibt und dass der Schmerz manchmal wieder stärker wird.

In den vergangenen Jahren haben sich vermehrt Trauerreisen etabliert. Viele Trauernde schätzen die professionelle Begleitung durch erfahrene Trauerbegleiter*innen und fühlen sich in einer Gruppe von Gleichgesinnten oft befreit. Sie empfinden es als Erleichterung, ihre Trauer nicht verstecken zu müssen, können sich offen austauschen und erleben, wie andere mit ihrem Verlust umgehen. Oft werden diese Reisen mit besonderen Aktivitäten in der Natur oder sportlichen Betätigungen kombiniert, um den eigenen Körper wieder bewusster wahrzunehmen und neue Kraft zu schöpfen.

Neuroplastizität: Wie sich das Gehirn anpasst

Trauern bedeutet nicht nur Abschied nehmen, sondern auch zu lernen, mit dem Verlust zu leben und ihn in die eigene Lebensgeschichte zu integrieren. Es gibt keinen allgemeingültigen „richtigen“ Weg zu trauern – jeder Mensch findet seinen ganz persönlichen Zugang. Und mit der Zeit passt sich unser Gehirn durch die sogenannte Neuroplastizität auch an die neue Realität an. Dieser Prozess erklärt, warum Trauer nicht einfach „aufhört“, sondern sich die Art und Weise verändert, wie unser Gehirn mit dem Verlust umgeht. „Heute geht man davon aus, dass Trauer nicht endet, sondern ins Leben integriert wird“, erklärt die Psychotherapeutin und Trauerexpertin Rita Rosener von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (Quelle: FAS vom 9.3.25 „Weiterleben. Wie verarbeitet man den Tod eines nahestehenden Menschen? Hirnforscher ergründen die Natur der Trauer). Die Neuroplastizität ermöglicht es uns, neue Bewältigungsstrategien zu entwickeln und sogar persönliches Wachstum zu erfahren.

Die Bedeutung von Zeit

Trauer ist keine Krankheit, die man „heilen“ muss, sondern ein natürlicher Anpassungsprozess unseres Gehirns und unseres Körpers an eine neue Realität ohne den geliebten Menschen. Dieser Prozess braucht Zeit und Raum – manchmal ein Leben lang. Wie Prof. Znoj so treffend sagt: „Trauern heißt nicht vergessen – sondern lieben in Abwesenheit.“ Indem wir uns erlauben, zu trauern, und uns die nötige Unterstützung suchen, schaffen wir die Grundlage dafür, den Verlust in unser Leben zu integrieren und eines Tages wieder Licht am Ende des Tunnels zu sehen. Und vielleicht entdecken wir eines Tages sogar wieder Momente der Freude – nicht trotz des Verlustes, sondern gerade wegen der tiefen Liebe, die wir empfunden haben.

Anke Nennstiel

Anke Nennstiel

Mein Plog und Podcast ist ein Herzensprojekt von mir. Und wie Sie sich sicher denken können, gab es in meinem Leben mindestens einen großen Wendepunkt. Er hat mich nach 20 Jahren Managementerfahrung bei RTL-Television letztendlich hierhin geführt. Ihm verdanke ich das wunderbare Leben, dass ich heute führe. Ich unterstütze Menschen leidenschaftlich gerne dabei, ihre eigenen Wendepunkte – ob freiwillige oder unfreiwillige – für sich zu nutzen.

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